In den Richtlinien für Reiten und Fahren der deutschen reiterlichen Vereinigung (FN) steht geschrieben, wie die Ausbildung von Pferden und Reitern aussehen sollte. Es wird der ideale Ausbildungsweg und auch das Endergebnis beschrieben. Auf ein paar wenige Fehler, die sich während der Ausbildung einschleichen können, wird hingewiesen und kurz ein möglicher Lösungsansatz umrissen. Alles weitere würde den Rahmen der Bücher sprengen.
Der ideale Ausbildungsweg geht von optimalen Voraussetzungen aus. Das Pferd bringt also gute bis sehr gute körperliche und mentale Reitpferdeeigenschaften mit. Es hat einen optimal proportionierten Körperbau und keine negativen Vorerfahrungen. Der Reiter wurde oder wird auf guten Pferden von guten Lehrern ausgebildet, hat selbst eine ideale Reiterfigur und ebenfalls keine negativen Vorerfahrungen. Außerdem passen die Proportionen des Reiters in Gewicht und Größe optimal zu den Proportionen seines Pferdes. Nicht umsonst arbeiten die Lehrbücher mit Zeichnungen und nicht mit Fotos, weil es in der Realität meistens anders aussieht.
In der Realität begegne ich meistens Menschen mit Pferden, bei denen die Voraussetzungen schon ungünstig sind:
- Das Pferd ist zu dick, zu dünn, zu groß oder zu klein
- Der Reiter ist zu groß oder zu klein
- Es gibt keine ordentlichen Trainingsbedingungen (Reitplatz)
- Das Pferd ist kein „klassisches Reitpferd“, also ein sportlicher Warmblüter, sondern ein halbhohes Pony, ein Spanier, ein Quarter Horse-Isländer-Mix, ein Kaltblut oder sogar ein Muli oder Esel
Dann spielen die Vorerfahrungen auf beiden Seiten eine große Rolle. Die wenigsten Menschen und Pferde haben ausschließlich positive Erfahrungen miteinander gesammelt:
- Das Pferd wurde nicht professionell ausgebildet und hat während seiner Ausbildung ein paar Dinge missverstanden
- Das Pferd wurde gerettet und seine Vorgeschichte ist unbekannt
- Das Pferd oder auch der Reiter hatten schon einmal einen Unfall
- Das Pferd oder auch der Reiter sind gesundheitlich, körperlich eingeschränkt und nicht voll belastbar
- Der Reiter hat negative Erfahrungen mit Ausbildern gemacht
- Reiter und Pferd sind in unterschiedlichen Reitweisen ausgebildet
Und dann haben wir noch die unterschiedlichsten Ziele, die der Reiter mit seinem Pferd erreichen möchte. Das Ziel der Ausbildung im Lehrbuch ist ein gesundes Dressur- oder Springpferd zu haben. Aber ein „normaler“ Freizeitreiter hat neben dem Springen und der Dressur vielleicht auch noch ganz andere Ziele mit seinem Pferd:
- Ausreiten
- Wanderritte
- Berittene Bogenschützen
- Mounted Games
- Bodenarbeit
- Und viele mehr…
In meinen Reitstunden versuche ich die unterschiedlichsten Voraussetzungen, Vorerfahrungen und Ziele meiner Reitschüler mit ihren Pferden so gut es geht zu berücksichtigen und herauszufinden wo man vom idealen Ausbildungsweg abgekommen ist. Es erfordert oft ein hohes Maß an Kreativität, Einfühlungsvermögen, Mut und Disziplin, um sowohl das Pferd, als auch den Reiter wieder auf den optimalen Weg zurück zu führen.
Dabei verfolge ich einen Grundgedanken.
Es gibt nur zwei Gründe, weshalb ein Pferd den Anweisungen seines Reiters nicht folgt:
1. Es ist körperlich nicht dazu in der Lage.
2. Es ist geistig nicht dazu in der Lage.
Wenn das Pferd unseren Anweisungen nicht folgt, interpretieren wir es häufig als Ungehorsam, dabei zeigt es uns nur manchmal mehr und manchmal weniger deutlich, was es nicht kann oder was ihm schwer fällt. Es blockiert, widersetzt sich, entzieht sich den reiterlichen Hilfen, verweigert einen Sprung, rennt einfach los oder wechselt die Richtung. Das sind alles Alternativen, die dem Pferd gerade als leichter erscheinen. Denn Pferde suchen sich immer den leichtesten Weg.
„Wiederhole oft, begnüge dich mit wenig, lobe viel.“
Nuno
Oliveira
Viele Dinge, die wir von unserem Pferd verlangen, erfordern viel Kraft oder Ausdauer. Häufig fehlt es dem Pferd an Kraft um hohe Hindernisse zu überwinden oder anspruchsvolle Lektionen in der Dressur ohne Fehler auszuführen. Dann verweigert es die Mitarbeit oder ist unmotiviert. Ein gut durchdachter und strukturierter Trainingsplan hilft dem Pferd Kraft und Kondition zu verbessern, um wieder motiviert mitzuarbeiten.
Anders sieht es bei körperlichen Defiziten aus. Hier spielt die natürliche Schiefe der Pferde eine Rolle. Aber auch Blockierungen, Verspannungen und ungünstige Bemuskelungen machen Probleme. Diese können verletzungsbedingt durch Schonhaltungen, durch fehlerhafte Ausbildung oder falsches Reiten entstehen. In diesen Fällen muss man die Pferde ganz gezielt so gymnastizieren, dass verkürzte Muskelgruppen gedehnt und geschwächte Muskelgruppen gestärkt werden. Das kann sehr lange dauern.
„Erlaube deinem Pferd, Fehler zu machen. Es lernt aus seinen Fehlern, genau wie wir Menschen und es sollte sich niemals davor fürchten müssen, etwas falsch zu machen.“
Buck Brannaman
Wenn unser Pferd unseren Anweisungen geistig nicht folgen kann, hat es unsere Anweisung nicht verstanden. Dann müssen wir ihm erklären, was wir gemeint haben. Reiten ist ein Gespräch, ein Dialog mit dem Pferd. Unsere Hilfen sind für die Verständigung mit dem Pferd entwickelt worden. Kein Pferd versteht unsere Gewichts-, Schenkel- und Zügelhilfen von Haus aus, sondern wir müssen sie ihm beibringen. An der Reaktion des Pferdes erkenne ich, ob es die Hilfe verstanden hat. Folgt es der Hilfe, wird es gelobt. Folgt es der Hilfe nicht, hat es etwas nicht verstanden. Die Hilfe kann dann noch einmal konsequent verstärkt werden, folgt dann aber nicht die gewünschte Reaktion, ist ein Missverständnis entstanden. Wir müssen reflektieren, wo der Ursprung des Missverständnisses liegt und eventuell in der Ausbildung des Pferdes ein oder mehrere Schritte zurück gehen. Vielleicht liegt der Fehler aber auch beim Reiter und die Hilfengebung war undeutlich oder nicht korrekt.
Wenn wir gemeinsame Grundlagen erarbeitet haben und ein stabiles Fundament entstanden ist, werden wir darauf aufbauen. Der Trainingsplan ist dann ganz individuell auf eure Ziele abgestimmt, damit euer Pferd optimal auf seine Aufgaben vorbereitet ist.
„Wenn dein Pferd einen Fehler macht, so suche die Ursache bei Dir. Und solltest du sie nicht finden, dann
suche gründlicher.“
Egon von Neindorff